Ein Tag mit Wind – Resonanz, Empathie und die pädagogischen Potenziale von VR am Beispiel von „Notes on Blindness“
Die Welt wahrnehmen heißt, mit ihr in Resonanz zu treten. Resonanz entsteht nicht in Harmonie, sondern in einem wechselseitigen „Berührt-werden“ – zwischen Mensch und Umwelt, Klang und Körper. „Resonanz ist ein Dialog, ein Moment des Fühlens, der uns berührt und verwandelt.“ So schreibt Hartmut Rosa in seiner Soziologie der Weltbeziehung „Resonanz“. Mit Notes on Blindness ist ein Erlebnis entstanden, welches das Potenzial hat, einen positiven gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, indem es Empathie durch VR in der Bildung fördert.
Notes on Blindness, als VR-Anwendung greift genau diese Idee auf. Sie zeigt, wie blinde Menschen die Welt erleben: durch Resonanz, durch das Hören, das die Umwelt lebendig werden lässt. Wahrnehmen bedeutet nicht, die Welt zu verstehen, sondern in sie einzutreten. Und genau das tut diese Anwendung – poetisch, direkt und emotional.
Die Erfahrung mit Notes on Blindness
Ein guter Tag für einen blinden Menschen ist kein Tag mit blauem Himmel. Es ist ein Tag mit Wind.
John Hull
Denn der Wind macht die Welt spürbar: Er trifft auf Gegenstände, erzeugt Resonanzen, macht Räume erfahrbar. Diese Idee zieht sich durch Notes on Blindness – eine VR-Anwendung, die auf den Aufzeichnungen von John Hull basiert, einem blinden Autor und Theologen, der seine Erfahrungen in einem akustischen Tagebuch festhielt.
Die Anwendung ist poetisch und minimalistisch gestaltet. Sie lässt uns die Umwelt nicht sehen, sondern hören und spüren. Gegenstände und Räume werden durch Resonanzen erfahrbar, die den Nutzer:innen helfen, sich in der virtuellen Welt zu orientieren. Mit kleinen Interaktionen – wie dem Erzeugen von Wind oder dem Berühren von Objekten – wird die Welt akustisch sichtbar. Das Konzept ist beeindruckend einfach, aber tief bewegend: Die Klänge machen erfahrbar, was für viele Menschen unsichtbar bleibt.
Screenshot aus der VR Anwendung „Notes on Blindness“
Notes on Blindness zeigt wie der Mensch in Dialog mit der Welt tritt, indem er die Umwelt hörend erfasst. Die VR-Anwendung lädt dazu ein, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und sich auf eine neue Art mit der Umwelt zu verbinden. Besonders bemerkenswert ist, wie sie das Konzept der Verbundenheit ohne visuelle Reize umsetzt. Der Wind, der Klang erzeugt, und die Interaktionen, die Resonanzen schaffen, lassen die Nutzer:innen Teil der Umgebung werden – nicht als Beobachter:innen, sondern als aktive Mitgestalter:innen.
Diese VR Erfahrung ist das, was ich mir immer wünsche: Mehr als eine Demonstration von Technik: Sie ist ein emotionaler Zugang zu einer Welt, die den meisten von uns fremd ist. In dem sie uns auffordert, sich von der Reduktion auf das Visuelle zu lösen, macht sie nicht nur die Umwelt, sondern auch die eigene Empathie spürbar.
Diese VR Erfahrung ist das, was ich mir immer wünsche: Mehr als eine Demonstration von Technik.
Als Lehrerin komme ich mit Menschen und Schicksalen in Kontakt, die ähnliches erleben. Und obwohl ich mich mit den Themen auseinandersetze, mich im Gespräch mit den Betroffenen befinde, waren viele Gedanken und Erfahrungen neu für mich. Ich konnte spüren, wie es ist, nicht zu sehen – zumindest marginal. Ich habe das Gefühl, dass dieses leise, aber kraftvolle Erlebnis mich besser verstehen lässt, wie die Umwelt sehbeeinträchtigter Menschen erlebt wird und welche inneren Konflikte und Bedürfnisse dadurch entstehen. Es ermöglicht mir, durch VR, empathischer auf die Bedürfnisse meiner SchülerInnen einzugehen, auch in der Bildung.
Hintergrund
Notes on Blindness basiert auf den originalen Audiotagebüchern des Autors und Theologen John Hull, die er 1983 aufnahm, nachdem er kurz vor der Geburt seines ersten Sohnes erblindete. Um die tiefgreifenden Veränderungen in seinem Leben zu verarbeiten, begann Hull, seine Gedanken und Erfahrungen auf Audiokassetten festzuhalten. Bei ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 beschrieb Oliver Sacks die Tagebücher als „den außergewöhnlichsten, präzisesten, tiefgründigsten und schönsten Bericht über Blindheit, den ich je gelesen habe. Für mich ist es ein Meisterwerk.“
… der außergewöhnlichste, präziseste, tiefgründigste und schönste Bericht über Blindheit, den ich je gelesen habe.
Oliver Sacks
Diese Aufzeichnungen dienten als Grundlage für den gleichnamigen Dokumentarfilm und die VR-Anwendung, entwickelt von Novelab und Atlas.
Die VR-Erfahrung macht exklusiven Gebrauch von Hulls gesprochenen Notizen, die ruhig, intim und nachdenklich sind. Es gelingt ihr, die innere Welt der Blindheit zu erforschen – Träume, Erinnerungen und das imaginative Leben werden auf beeindruckende Weise erlebbar gemacht.
Besonders faszinierend ist, wie die Anwendung mithilfe von Head-Tracking es den Nutzer:innen ermöglicht, sich akustisch in Hulls Welt zu bewegen. Mit einfachen blau-schwarzen Wireframe-Visualisierungen werden die Aufzeichnungen illustriert. Die VR-Erfahrung dauerte anfangs etwa 30 Minuten und ist mittlerweile auf 7min kompensiert worden. Sie umfasst sechs Kapitel, die subtile Szenen wie das Ticken von Windspielen oder das Quaken von Enten in einem Park beinhalten. Einige Szenen sind leicht interaktiv, wie das Lenken von Wind auf eine Schaukel, doch die Anwendung bleibt insgesamt eher passiv und regt zum Nachdenken an.
Reflexion: Stärken und Schwächen der Anwendung
Das Erkunden der Welt durch Klang und Resonanz verändert den Blick auf die eigene Wahrnehmung und führt zu einer tiefen Verbundenheit mit der dargestellten Umwelt.
Stärken
Notes on Blindness ist in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Vor allem besticht die Anwendung aber durch ihre inhaltliche Tiefe und poetische und minimalistische Darstellung, die das Konzept der Blindheit auf eine neue Ebene hebt. Sie schafft es, komplexe Themen wie Resonanz und Wahrnehmung in einer emotional tiefgehenden Weise zu vermitteln. Der Inhalt ist immersiv und regt zum Nachdenken an, was sie zu einer der wenigen VR-Erfahrungen macht, die sich durch inhaltliche Tiefe und kreatives Design auszeichnen.
Die emotionalen Momente, die durch die Interaktionen entstehen, sind ein weiterer Pluspunkt. Das Erkunden der Welt durch Klang und Resonanz verändert den Blick auf die eigene Wahrnehmung und führt zu einer tiefen Verbundenheit mit der dargestellten Umwelt. Es ist eine Anwendung, die den Nutzer:innen Raum für Reflexion bietet und durch ihre Schlichtheit berührt.
Besonders hervorzuheben ist die Interaktivität der Anwendung. Nutzer:innen erleben die Welt, indem sie ihren Blick bewusst wenden, Wind entstehen lassen oder Gegenstände durch Hören „sichtbar“ machen. Diese Interaktionen schaffen eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und machen Resonanz spürbar, nicht nur als Konzept, sondern als unmittelbares Erlebnis.
Die technischen Herausforderungen
Obwohl Notes on Blindness inhaltlich berührt, gibt es technische Schwächen, die die Erfahrung trüben können. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Anwendung schon mehrere Jahre alt ist und sich seither technisch sehr viel getan hat. Nichts destotrotz:
Bewegung und Motionsickness: In einer Sequenz der Anwendung sollen Nutzer:innen sich durch die Umgebung bewegen. Dies geschieht, indem man durch das Drücken des Triggers eine Bewegung aktiviert. Statt sich jedoch physisch fortzubewegen, wird man virtuell „hingefahren“. Diese Art der unfreiwilligen Bewegung führt bei vielen Nutzer:innen zu Motionsickness, also Übelkeit und Orientierungslosigkeit. Gerade für Anfänger:innen in VR-Anwendungen ist dies ein großes Hindernis, da die fehlende Synchronität zwischen visueller und körperlicher Wahrnehmung das Gleichgewichtssystem irritiert.
Audioqualität: Zu Beginn wird man aufgefordert, Kopfhörer zu verwenden. Das ist sicherlich sinnvoll und hilft auch. Aber die Audio-Qualität hat einfach noch viele Mängel. Die Feinheiten fehlen, die Nuancen im Klang – das, was aus einer kleinen Tasse eine große macht oder aus Wasser Öl. Obwohl die Anwendung mit Spatial Audio arbeitet, bleiben diese Zartheit und Differenzierung hinter den Erwartungen zurück. Es ist schade, aber dies ist keine App-spezifische Einschränkung, sondern scheint dem Medium VR momentan noch immanent zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier bald etwas tut.
Visuelle Darstellung: Die reduzierte ästhetische Gestaltung passt zwar zum Konzept der Blindheit, wirkt jedoch an manchen Stellen nicht klar genug. Hier könnte die visuelle Qualität gezielt verbessert werden, ohne den Fokus auf das Auditive zu verlieren.
Perspektiven für die Pädagogik
Mehr Empathie durch VR in der Bildung
Bildung ist mehr als die Vermittlung von Wissen. Sie ist ein Raum, in dem Menschen aufeinandertreffen, sich austauschen und gemeinsam über die Grenzen des Bekannten hinausdenken. In einer Zeit, in der Empathie immer wichtiger wird, können immersive Technologien wie Notes on Blindness dazu beitragen, neue Perspektiven zu eröffnen.
VR in der Bildung hat das Potenzial Empathie zu fördern
Empathie als Schlüsselkompetenz: Empathie bedeutet, die Welt mit den Augen (oder in diesem Fall den Ohren) eines anderen zu sehen. Solche Erfahrungen können helfen, Vorurteile abzubauen und ein tieferes Verständnis für andere Lebensrealitäten zu entwickeln. Sie machen abstrakte Konzepte wie Inklusion erlebbar und nachvollziehbar.
Soundscapes gestalten: Schüler:innen könnten eigene Klanglandschaften erstellen, die Räume oder Emotionen hörbar machen. Der Vorteil von VR wäre dabei die Immersion – also die Ausblendung der realen Welt und der Fokus auf die hörbare Welt. Man hat die Kontrolle darüber, welche visuellen Reize man setzen möchte – ein Konzept, das in der realen Welt nur mit sehr großem Aufwand zu leisten wäre.
Reflexionsaufgaben: Nach dem Erleben von Notes on Blindness könnten Schüler:innen beschreiben, wie es sich anfühlt, die Welt über Klänge wahrzunehmen. Der Nachteil dabei ist, dass es sich um eine Single-User-Anwendung handelt. In der Schule ist das kaum umsetzbar, denn es braucht einen gemeinsamen Input, einen gemeinsamen „Wissensstand“, von dem aus man in eine Diskussion starten kann. Eine Multiplayer-Anwendung wäre hier ideal, oder aber jede:r Schüler:in hätte ein Headset, um die Erfahrung von zuhause aus zu machen. Anschließend könnte man sich in VR treffen – etwa in einem virtuellen Klassenzimmer – und darüber diskutieren.
Interaktive Projekte: Schüler:innen könnten mit einfachen Technologien interaktive Klangwelten gestalten, um das Prinzip der Resonanz zu erforschen. Prinzipiell ist dies auch eine schöne fachübergreifende Aufgabe mit Physik. Es gibt bereits Technologien, die es ermöglichen, Oberflächen verschiedene Audio-Eigenschaften zuzuweisen – so kann etwa ein Teppich in VR anders klingen als eine Metallwand. Derzeit (Dezember 2024) ist mir jedoch keine Anwendung bekannt, die sich modular für diese Zwecke einsetzen ließe, ohne dass man sich in Unity oder anderen Programmiertools auskennen müsste.
Immersion und Resonanz als Schlüssel zu mehr Verständnis
Ein Tag mit Wind – ein Tag, der die Welt öffnet, selbst wenn die Augen geschlossen bleiben.
Ein guter Tag ist ein Tag mit Wind.
Diese einfache, poetische Wahrheit aus Notes on Blindness zeigt, wie VR uns nicht nur in andere Welten, sondern auch in die Gefühlswelt anderer Menschen führen kann. Immersive Technologien wie diese schaffen Resonanz – diese stille Verbindung zwischen uns und der Welt, die ein tieferes Verständnis ermöglicht. Sie fördern Empathie und regen dazu an, unsere Wahrnehmung neu zu denken und zu erweitern.
Vielleicht liegt die Zukunft der Bildung nicht nur im Wissen, sondern in der Fähigkeit, solche Resonanz zu erleben und weiterzugeben. Denn nur so werden wir Teil einer Welt, die nicht nur gesehen, sondern gespürt wird. Und es ist schön zu erleben, dass wir Technologie nutzen können, um Empathie durch VR in der Bildung zu stärken. Denn davon brauchen wir alle viel mehr.
Wie siehst du die Zukunft von VR in der Bildung? Welche Rolle kann Resonanz dabei spielen, Empathie und Inklusion zu fördern? Teile deine Gedanken in den Kommentaren oder lass uns darüber diskutieren!
Notes on Blindness – Infos
Dauer 7 min, Produktion: Ex Nihilo, ARTE France, Archer’s Mark